Eine hundertjährige Vergangenheit

Das bewegte Leben des Industriellen Wilhelm Leibbrand

Der Gewerbepark Vorstadtstraße blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Der Großindustriellen Wilhelm Leibbrand, baute sich in den Jahren 1914 bis 1921 in der Schorndorfer Vorstadt ein Imperium in der Branche der Konserven-Herstellung auf.
Zur Blütezeit des Unternehmens war die Konservenfabrik W. Leibbrand der größte Produzent im gesamten deutschsprachigen Raum. Nahezu die gesamte Deutsche Wehrmacht wurde im Ersten Weltkrieg mit so genannten "Liebesgabenpackungen" aus Schorndorf versorgt.

Dem kometenhaften Aufstieg Wilhelm Leibbrands, 1888 geboren, ging ein klassischer Werdegang voraus. Als junger Bursche begann er um die Jahrhundertwende im elterlichen Wirtshaus eine Koch-Lehre, die er erfolgreich abschloss. Es folgten Lehr- und Wanderjahre, die ihn in vielen Teilen der Welt herum kommen ließen und deren Umstände die Grundlage seiner zukünftigen Aktivitäten bilden sollten.

Die Wanderjahre des Wilhelm Leibbrand

Zu jener Zeit, als die Stuttgarter Straßenbahn die Pferde abschuf, auf dem Cannstatter Wasen die ersten Flugversuche unternommen wurden und am Rathaus die ersten Automaten-Büffets in Betrieb gingen, arbeitete Wilhelm Leibbrand im altehrwürdigen "Hotel-Cafe Marquardt". Es folgten Anstellungen in der Schweiz und Frankreich, gar auf dem Luxus-Liner "Bremen". Irgendwo hier muss es zur entscheidenden Begegnung gekommen sein: Wilhelm Leibbrand traf auf die Familie Rothschild, wurde als Koch engagiert und begleitete den einflussreichen Familien-Clan etwa zwei Jahre lang auf einer Rundreise durch Afrika. Von dort brachte er Unmengen an Masken, Waffen und Stammesfetischen mit. Allerhand exotische Dinge, die später in seiner Konservenfabrik in einem Besprechungszimmer ausgestellt waren und nach seinem Tode an Schorndorfer Schulen abgegeben wurden.

Mit der Entlohnung aus der Zeit seiner Wanderjahre eröffnete Leibbrand 1912 das Hotel "Zur Krone" am Marktplatz in Schorndorf. Schon kurze Zeit später konnte er stolz auf einen sechsköpfigen Mitarbeiterstab blicken. Ein Menüvorschlag (für 2,50 Reichsmark) für den damaligen Bahnhofsinspektor lautete wie folgt: Mailänder Suppe, Ochsenfleisch mit Beilagen und Bouillonkartoffeln, Kalbsnuss mit Spargelgemüse und Salat, Meringnen-Torte und Cafe.

"Liebesgaben" - Tafelfertige Gerichte in Dosenform

Der Rückgang des Geschäftes infolge des Beginns des Ersten Weltkrieges machte Leibbrand erfinderisch. Am 5. Dezember 1914 machte er sich daran eine lange gehegte Idee in die Tat umzusetzen. Zunächst für Lazarette und Feldtruppen begann er mit der Herstellung sogenannter "Liebesgabenpackungen" in luftdicht verschlossenen Dosen. Diese "Liebesgaben" waren tafelfertige Gerichte in Dosenform wie etwa Kalbsbraten, Schützenwurst mit Sauerkraut oder Rote Wurst mit Salat. Der auffällige Namen der Dosengerichte entstammt wohl der Tatsache, dass viele Angehörige ihren Soldaten-Söhnen damals so genannte "Fresspakete" in Form von Konserven zu kommen ließen.

Das Geschäft boomte. Wilhelm Leibbrand musste vergrößern, kehrte der Gastronomie den Rücken, und erwarb in der Vorstadt ein Areal von 27 Hektar. Dort entstanden in Eiltempo Produktionsstätten wie Kühl- und Kesselhäuser, Schlachthäuser, eine betriebseigene Küferei sowie das Wohnhaus der Familie, das heute noch steht. Über zwei Kilometer Schienenstränge durchzogen das Gelände. Am 15. Juni 1915, Leibbrand war 27(!), wurde mit der Produktion begonnen. Gigantische Massen an Fleisch und Gemüse wurden fortan hier verarbeitet. 150 Rinder oder 300 Schweine standen täglich ihren Schlächtern gegenüber und fanden sich in 25.000 Wurstkonserven wieder. Eben so viele Gemüsekonserven wurden verarbeitet. Auf einer Einkaufsliste finden sich zwei schier unglaubliche Positionen: 25.000 Kilogramm Steinpilze und 10.000 Kilogramm Pfifferlinge!

Bei unerwarteter Lieferung von "Lebendfleisch" zu später Stunde oder am Wochenende konnte es vorkommen, dass ein Vorarbeiter durch die Stadt lief, um seine Arbeiter zusammen zu trommeln. Das Fleisch musste rasch verarbeitet werden, die riesigen Kühlhäuser arbeiteten mit Eis. Seine Marktstellung war mittlerweile so groß, dass er das Angebot bekam auch die Luftschiffflotte Graf Zeppelins mit Konserven zu versorgen. Eine Speisekarte des L.Z. 126 blieb erhalten. "Leibbrands Fabrikate auf dem Weg nach Amerika" lautet der Slogan der die Passagiere sechs mal am Tag mit Remstäler Delikatessen aus der Dose versorgte.

Wilhelm Leibbrand war ein gemachter Mann. Seine beiden großen Mercedes-Limousinen, Ausdruck seiner gesellschaftlichen Stellung, stehen heute im Mercedes-Benz-Museum. Mit dem Kriegsende 1918 brachen die Umsätze jedoch allmählich ein. Leibbrand versuchte sich fortan im Versandgeschäft, doch durch die enthaltsamen Kriegsjahre änderte sich das Konsumverhalten. 1921 gründet er parallel die Elektrogeräte-Firma Jupiter, deren Spezial-Haushalts-Maschine (ein Fleischwolf mit senkrechtem Auswurf und zahlreichen Variationsmöglichkeiten) in der Folgezeit für Furore sorgen sollte.

Ende einer Ära und Neubeginn

Das Konserven-Geschäft brach jedoch ein. Die Inflation tat das ihrige dazu. Im Januar des Jahres 1923 kostete ein Laib Brot 250 Reichsmark, im Dezember 399 Milliarden. Arbeiter und Angestellte trugen an Zahltage in Waschkörben ihren Lohn schnell zum nächsten Geschäft, bevor das Geld wertlos wurde.
In den Jahren 1923/24 erlischt das Konserven-Imperium von Wilhelm Leibbrand, die Geschäfte seiner Jupiter-Elektrogeräte-Fabrik gehen in die Hände nachfolgender Generation über.
Im Alter von nur 55 Jahren stirbt Wilhelm Leibbrand, ein großer Visionär und einer der Väter des wirtschaftlichen Aufschwungs seiner Zeit.

Anfang der 1960er Jahre übernahm der Maschinenbauer Hahn & Kolb aus Stuttgart den Gebäudetrakt. Nach dessen Insolvenz erwarben Siegfried und Jochen Michel 1993 den Komplex und wandelten ihn zum Gewerbepark um. Heute findet sich hier ein Branchen-Mix von unterschiedlichen Gewerken.

Text: © Tom Krink